Frage 1:
Das Thema des Sozialstaats hat Sie immer wieder beschäftigt. Sie wurden in Ihrer Zeit als Richter am Bundesverfassungsgericht von Politikern (FAZ 17.03.2010, Nr. 64, S. 10) als "teuerster Richter" bezeichnet, weil unter Ihrem Vorsitz das Urteil des Ersten Senats (BVerfGE 125, 175 vom 9. Februar 2010) zur Berechnung der SGB II-Sätze gefällt wurde, welches die Höhe als verfassungswidrig beurteilt hat. Bei den Fachkräften der Sozialen Arbeit wurde das Urteil mit großer Freude zur Kenntnis genommen. Was bedeutet für Sie das Wort "sozial"? Was ist für Sie das "Soziale" am Sozialstaat?
Antwort auf Frage 1: Die Entwicklung des deutschen Gemeinwesens zum Sozialstaat begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die bisherige „Armenpflege“, die von den Kommunen betrieben wurde und erst in extremen Notlagen Almosen ohne Rechtsanspruch vergab, wurde mit der Industrialisierung und Urbanisierung der Gesellschaft als unzureichend erkannt. Die kommunale Armenpflege reagierte nur auf individuelle Not; der Staat sah noch nicht das soziale Problem ganzer Gesellschaftsschichten. Erst auf Initiative des Reichskanzlers Bismarck setzte sich die Einsicht durch, dass der Staat neben einer Hilfe in individueller Not auch Vorsorge für die allgemeinen Lebensrisiken von Alter, Invalidität und Krankheit treffen muss. Er organisierte deshalb die gesetzliche Sozialversicherung als öffentlich-rechtliche Pflichtversicherung derjenigen Gesellschaftsschichten, die sich nicht aus eigenem Vermögen gegen solche Risiken absichern konnten. Im Lauf der Zeit wurde sie von einer reinen Arbeiterversicherung zur Vorsorge für alle Arbeitnehmer erweitert, denn die Massenkalamitäten der Weltkriege und Finanzkrisen verhinderten den Aufbau einer Gesellschaft mit eigenem Vermögen.
Heute zeichnet sich der deutsche Sozialstaat durch drei Elemente aus: Er lässt seine Bürger in existentiellen Notfällen nicht im Stich, sondern unterstützt sie, z. B. durch eine Grundsicherung. Er trifft Vorsorge gegen allgemeine Lebensrisiken, wie Alter, Krankheit oder Pflege, wie in Deutschland durch die gesetzliche Sozialversicherung. Und er gestaltet die Gesellschaft mit, etwa im Arbeitsleben, statt lediglich für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Das Grundgesetz untermauert das erste Element durch einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf finanzielle Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums für jedermann. Es mag sein, dass ich als Berichterstatter im SGB II-Fall zum „teuersten Richter“ wurde; das ergab sich aber zwingend aus den Vorgaben des Grundgesetzes in Art. 2 und 1 GG. Den Sozialstaat bekommt man nicht umsonst.